Ein Pferd steht verloren auf der Alp. „Was machst du hier?“, fragt die Alp das Pferd. „Man hat mich hier hingestellt,“ antwortet das Pferd. „Wer?“ Die Alp wundert sich. „Mein Mensch hat mich hierhin gebracht, aber er hat mir nicht gesagt, was ich hier machen soll,“ antwortet das Pferd verdutzt. „Hier kannst du dich ausleben, dich sein, dich mit Fülle und Weite tanken,“ sagt die Alp. „Ich weiss nicht was du meinst mit mich sein und so,“ sagt das Pferd.
„Woher kommst du denn?“ wundert sich die Alp. „Von einem Ort mit vielen grauen Gebäuden. Innerhalb des Gebäudes sind viele kleine Zimmer mit Gitterstäben. In einem dieser Zimmer wohne ich, und nebenan sind Kollegen in ihre eigenen Zimmern. Wenn ich aus dem Zimmer darf, sagt mir mein Mensch, was ich zu tun habe. Aber jetzt ist er nicht da, hat mich allein gelassen in dieser Weite und Grösse, und ich weiss nicht was ich tun soll.“ Dem Pferd schlottern die Knie. Es hat Angst. „Zudem hab ich Durst.“
Die Alp schaut den Fluss an, der sich ein paar Meter weiter vorne durch die Wiese schlängelt, legt den Finger an den Mund und flüstert: „Schau da! Da kannst du trinken.“ „Wo denn?“ Das Pferd sucht verzweifelt. „Das Wasser ist sonst in der Ecke meines Zimmers und kommt aus der Wand.“ Die Alp begreift. Sie legt ihre Arme um das Pferd, so dass es sich behütet fühlt. Sie pfeift den anderen Pferden, damit sie dicht neben das Pferd stehen, und ihm Schutz geben. Sie bittet die Herde, das Pferd zum Fluss zu führen, ihm Bocksprünge vorzuhüpfen und ihm zeigen, welche Kräuter man auf der Wiese fressen kann.
Das Pferd erkundet jeden Tag ein bisschen mehr von der Alp. Es lernt verschiedene Wasser kennen, verschiedene Wiesen. Es lernt den Po gegen den Wind zu halten und die Ohren bei Regen nach unten hängen zu lassen. Es lernt, mit andern Schweif an Schweif zu stehen und sich die Fliegen wegzuschlagen. Es lernt in der Herde rumzugaloppieren und seine Mähne im Wind wehen lassen.
Als sein Besitzer am Ende der Alpzeit kommt, um es abzuholen, meint das Pferd stolz: „Ich bin nicht mehr das Pferd, dem du sagst, was es machen soll. Ich weiss jetzt selbst, was mir gut tut. Zuhause zeige ich dir, wie wir zusammen im Dreck wallen, den PO gegen den Wind halten und Kräuter fressen.“
Mensch und Pferd gehen glücklich nach Hause. Die Alp runzelt die Stirn und wünscht dem Menschen viel Glück.
Bilder: Walter Wolfer